Schleifkotten an der Wupper - Obenrüdener Kotten

Reisen im Bergischen Land, Tagebuchaufzeichnungen von Godfrey Issac Howard Lloyd über eine Studienreise nach Solingen und Remscheid 1908

Godfrey Issac Howard Lloyd, Professor der Nationalökonomie an der Universität in Sheffield besuchte am 3. bis 11. April 1908 die Stadt Solingen und die Produktionsstätten der Solinger Schneidwarenindustrie im sogenannten Oberen Kreis des Landeskreis Solingen. Seine Tagebuchaufzeichnung bieten einen interessanten, subjektiven Blick eines aussenstehenden Beobachters auf die Arbeits- und Lebensweise der Solinger Schleifer. Die Hintergründe und Zusammenhänge der Reise, die mit Sicherheit nicht unbedeutend sind, möchte ich hier nicht darlegen. Wen es interessiert, der möge die genannte Quelle aufmerksam lesen.

Am Dienstag, 7. April 1908 führte ihn eine seiner Besichtigungstouren zum Rüdener Kotten. Nach einer Stunde Fußmarsch erreichte er den Kotten in Untenrüden an der Wupper. Seinen weiteren Ausführung kann man aber leicht entnehmen, dass er den Obenrüdener Kotten näher in Augenschein genommen hat. "Der Rüdener Kotten, der teilweise abbrannte, ist zum einen Teil alt zum anderen brandneu (erst seit 6 Monaten in Betrieb)." Brandneu - so habe ich dieses Wort noch nie gedeutet. Der Außenkotten brannte in der Tat 1906 nieder und wurde 1907 in seiner heutigen Form in Backsteinbauweise wieder aufgebaut. "Der ursprüngliche Kotten könnte eine Kornmühle gewesen sein, ist jedoch auf jeden Fall sehr alt, ein Stein im Fundament datiert aus dem Jahre 1739. Es ist ein Fachwerkhaus über einem Fundament aus Stein und stellt die schlechtesten Zustände dar, die wir gesehen haben. Der neu erbaute Teil hingegen zeichnet sich durch Verhältnisse aus, die kaum zu verbessern sind. Beide Teile werden mittels Wasserkraft angetrieben. Alle möglichen Arten von Schleifarbeiten werden an Messern, Scheren und Schwertklingen ausgeführt. "

Der Stein im Fundament muss eine besondere Bedeutung haben, da er in diversen Publikationen erwähnt wird. Lloyd erwähnt die Wasserkraft, um die Jahrhundertwende wurde diese immer mehr durch Dampfkraft und den Strom ersetzt. An einer anderen Stelle gibt er auch Hinweise für die Stromkosten: 18 Pfg. pro Kilowattstunde, bzw. 8 Pfg bei entsprechender Mengenabnahme.

"Die Männer leben in dem malerischen Nachbarort im Herzen dieses bewaldeten Tals - man erzählte uns -, dass sie die Woche über gewöhnliche Abstinenzler seien, aber sonntags Bier tränken. "

Der malerische Nachbarort dürfte Oben- bzw. Untenrüden sein. Was mag der Tagebuchschreiber unter einem gewöhnlichen "Abstinenzler" verstehen?

"Die Arbeit wird von Frauen geholt oder gebracht, um Zeit zu sparen, oder von regelmäßig verkehrenden Landfuhrleuten. Es gibt richtige Fuhrleute, die von einer Wirtschaft in der Stadt losziehen und Arbeit einsammeln oder Heimarbeiter am Wege beliefern, gegen eine Gebühr von etwa 20 Pfennig für ein Päckchen, das die Arbeit einer Woche enthält."

"40 Männer und Frauen arbeiten hier, die meisten im neuen Kottenteil."

"Der neue Kottenteil hat zwei oder drei Räume mit Schleifsteinen (ein Raum mit einer Fläche von neuen Quadratyard und 13 Fuß hoch hat nur zwei Schleistellen) und gesonderte Räume zum Pliesten, wie es meist der Fall ist. Immmer derselbe Mann schleift, pliestet und poliert, doch das Nass-Schleifen findet jeweils in einem anderen als dem Pliestraum statt. Es gibt keine Arbeitsteilung oder Gruppenarbeit beim Schleifen, wenn man einmal von ein oder zwei nichtorganisierten Schleifkotten absieht, die vom Verband boykottiert werden. "

Fließbandarbeit wird also boykottiert?

"Gepliestet wird mit schmirgelbezogenen ledernen Pliestscheiben, doch die zu pliestenden Produkte werden mit nassem Schmirgel versehen. Dies reduziert die Staubbildung erheblich. "

Diese Beschreibung muß ich noch überprüfen!

"Im neuen Kottenteil waren in allen Räumen ausgezeichnete Lichtverhältnisse zu beobachten. Im älteren Kottenteil war der Fußboden in schlechtem Zustand, obwohl überall ein extra hergerichteter Fußboden vorhanden war, und die Maschinerie war weniger gesichert; die Feuchtigkeit war hier, wie in einem Sheffielder Schleifkotten (im Rivelin-Tal), besonders spürbar, und die Lichtverhältnisse in den oberen bzw. Pliesträumen waren nicht gut, es handelte sich überhaupt um einen armseligen Bau, der die alten schlechten Verhälnisse repräsentierte. In diesen heruntergekommenen Werkstätten waren alle dort arbeitenden Männer und Jungen weniger sauber und ordentlich als in all den anderen besichtigten Schleifkotten, und in diesem Fall und nur hier arbeitenden zwei Jungen und ein Mann in ihrer gewöhnlichen Kleidung, ohne Arbeitsanzüge zu tragen. Dies legt nahe, dass eine schlechte und ungesunde Umgebung einen demoralisierenden Einfluß hat."

Ein Philosoph auf Reisen... Und zum Thema Lichtverhältnisse: Möchte mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster lehnen; werfen sie einmal einen Blick in die Karte. Ob der Neubau nicht auch etwas dazu beigetragen hat?

"Der Schleifer am nassen Stein steht halb gebeugt vor dem Schleifstein, unterstützt durch ein Holzbrett. Er benutzt schwere hölzerne Beinschienen oder Gamaschen, die vom Knie bis zum Fuss mit Stroh ausgestopf sind. Sein Schleifholz (Ortsspohn) wird mit Hilfe der Beinschienen gegen den Schleifstein gedrückt, und die rollende Schleifbewegung wird durch das Bewegen des jeweiligen Artikels mit der Hand hervorgerufen."

"Die Arbeiter im älteren Kottenteil klagten ganz ordentlich über die schlechten Bedingungen, mit denen sie sich abfinden mußten und darüber, dass sie nicht die Gelegenheit hatten, unter besseren Bedingungen, wenn auch zu einer höheren Miete, zu arbeiten."

Gehört zu Solingen... Ich meine das Klagen!

"Die Männer im älteren Kottenteil zahlen eine Mark wöchentlich unabhängig davon, welche Arbeit sie verrichten: Im neuen Kottenteil beträgt die Miete 2,50 Mark für die Herstellung von Tafelmessern und 1,80 Mark für alle anderen Arbeiten (ein Mann mit Lehrjunge muss die doppelte Miete zahlen)."

Haben sie tatsächlich nicht die Möglichkeit gehabt zum doppelten Mietpreis die Arbeitsstätte zu wechseln?

"Sieben der Schleifermeister sind Partner, und ihnen gehört der ganze Schleifkotten (auch sie bezahlen Miete und arbeiten genau wie die anderen, doch alle 6 Monate teilen sie die Gewinne aus den Mieteinnahmen unter sich auf). Viel Ware wird hier für den indischen Mark hergestellt. Hier und auch woanders waren viele englische Namen zu finden. Auch in den ältesten Werkstätten waren die Absaugvorrichtungen in einem guten Zustand. "

" "

Später mehr, interessante Beobachtungen des englischen Ökonomen folgen noch....

Beispielsweise eine Aufstellung der Löhne in Solingen zu dieser Zeit:
Reider für Knochengriffe25 bis 42 Mark die Woche, im Durchschnitt 33 Mark
Scherenschleifer und -ausmacher24 Mark die Woche
Bei Henkels, Arbeiter am Federhammer6 bis 7 Mark am Tag
Heizer (Jugendliche)5 Mark am Tag
Rasiermesser- und Scherenschläger40 bis 45 Mark die Woche
Tisch- und Küchenmesserschleifer35 bis 50 Mark die Woche, einige bis zu 70 Mark
Reider für Holzgriffe und Holzheftemacher30 bis 36 Mark die Woche
Heftemacher24 bis 35 Mark die Woche, durchschnittlich 27 Mark

Die ausführlichere Darstellung samt Einordnung der Reise in die (gewerkschaftliche) Geschichte der Organisationsstrukturen und Arbeitsbedingungen der Solinger Schneidwarenindustrie können sie bei Manfred Krause, Reisen im Bergischen Land, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 97. Band, Jahrgang 1995/96, S. 257 nachlesen.

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